TEMPO GUISTO

Vita Thomas JahnInterview mit Thomas Jahn

Über das Ensemble Hinz und KunstEcho: Tempo Guisto

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Interview mit Thomas Jahn

Die Fragen stellte Stefan Schäfer.

Beim Blick auf Ihre Biografie fällt auf, dass Sie nicht nur eine sehr breitgefächertes Musikstudium (Komposition-, Instrumental- und Dirigierstudium) absolviert haben, sondern auch in verschiedenen Bereichen der Musikbranche tätig waren.
Sind das unverzichtbare Voraussetzungen, um als Komponist zu arbeiten?


Natürlich nicht. Ich war einfach neugierig. Zurück blickend verstehe ich es als ein "Auf Fortbildung sein". Einerseits verdiente ich mein Geld bereits als Dozent an der Hamburger Musikhochschule, bei dem Ensemble Hinz & Kunst und später in einem Hamburger Musikverlag und bildete mich gleichzeitig weiter. Ich glaube, das hört niemals auf.

Sie haben u.a. bei Hans Werner Henze studiert, und mit ihm beim Aufbau des Festivals „Cantiere Internationale d´Arte“ in Montepulciano zusammengearbeitet. Sie kennen Henze seit vielen Jahren und sind ihm freundschaftlich verbunden. Der Untertitel von Tempo giusto – Musik zu einer choreographischen Imagination – erinnert an einige Kompositionen Henzes. Welchen Einfluss hat Henze auf Ihre kompositorische Arbeit?

Sie spielen mit Recht auf eine Komposition wie zum Beispiel El Rey de Harlem – „Imaginäres Theater für...“ von Henze an. Die Zusammenarbeit mit ihm gehört zu den prägenden Eindrücken meines Lebens. Das lag an den Umständen. Die Mitarbeit fand in einer Zeit statt, in der ich als Lernender auf ihn als einen ebenfalls Lernenden traf. Wir waren sozusagen beide "Auf Fortbildung". Er hatte das "Cantiere Internazionale d'Arte" in Montepulciano, Toscana, ins Leben gerufen, und er hatte so etwas niemals vorher gemacht. So erlebte ich einen Menschen, der ein Wagnis ohne Netz und doppelten Boden unternahm. Er hatte einen Traum, und unentwegt ohrfeigte ihn die Realität, aber mit , wie soll ich sagen, machiavellischer Verbissenheit setzte er diesen Traum um. So nahm ich teil an einem Prozess, in dem der Lehrer zugleich als Starker und Schwacher auftrat. Wie ehrlich. Einen ganz Starken in seinen ganzen Schwächen zu erleben, ist der beste Kompositions - und Lebensunterricht, den man sich vorstellen kann.

Sie waren Mitbegründer der Musikgruppe Hinz und Kunst. Was war das Besondere an diesem Ensemble ? Was hat Hinz und Kunst von heutigen Neue Musik-Ensembles unterschieden? Warum ist die Gruppe auseinandergefallen?

Ich fange mit der letzten Frage an. Das Ensemble fiel auseinander, weil die Zeit auseinander fiel. Das Ensemble wäre ohne die Studentenbewegung der 68er nicht entstanden. Doch mit der Abendröte der Bewegung begann auch das Ende von Hinz & Kunst. Das Ensemble unterscheidet sich deshalb von anderen, weil es einfach ein Kind seiner Zeit war. Ich habe das mit meinem für das Ensemble komponierten Nonett Zeitgeist zu reflektieren versucht. Das Image des Ensemble bestand in der Einheit von Produktion und Reproduktion. Wie zu Zeiten der Commedia dell`arte waren wir die Spielmannsleute und Gaukler, die sich ihre Stücke selbst schrieben und aufführten.

Heute unterrichten Sie u.a. als Dozent für Musiktheorie an einer Ballettschule. Welche Anregungen oder Folgen für Ihre eigene kompositorische Arbeit entstehen aus der Arbeit  mit Tänzern und Choreographen?

Meine Affinität zum Ballett geht zurück auf die Zusammenarbeit mit William Forsythe und besteht nicht erst, seitdem ich an der Erika-Klütz-Schule unterrichte. Dazu eine Geschichte: Als Henze uns zusammenbrachte, sagte ich zu Forsythe, dass mich nur eine Form der Choreographie interessiert, die der Marschformationen von Blaskapellen auf den Fußballfeldern vor einem Fußballspiel. So entstand unser Jakobinerballett Tis pity she`s a whore nach dem 1633er-Drama von John Ford. Es begann mit einem bombastischen Marsch für ein Riesenblasorchester auf der Piazza von Montepulciano, und zwischen den in Reih und Glied aufgestellten Musikern wuselten die Tänzer und Tänzerinnen und brachten die Formationen so durcheinander, dass nur noch eine einsame Es-Klarinette übrig blieb. Ich war begeistert, weil sich darin sein tiefes Verständnis für meine choreo-graphischen Visionen ausdrückte. Das Stück endete übrigens mit Inzest, Denunziation, Intrigen, Vergewaltigung, Mord und Totschlag. Nur Leichen von schönen Tänzern und schönen Tänzerinnen. Alles choreographisch. Dazu läuteten alle Glocken des Duomo, die Blaskapelle machte sich auf und davon. Noch einmal, ich war begeistert. Das spätere Gänge - Projekt von Forsythe, Michael Simon und mir hat mein Interesse an der Choreographie vertieft. Wir knüpften an die literarischen Strukturalisten wie Robbe - Grillet und Semiotiker wie Barthes und Eco an und betraten Neuland. Mein "poetisches Musiktheater" nach Texten von Gertrude Steins Tender Buttons ist ein aus dem strukturalistisch - choreographischen Geist geborenes Bühnenwerk, in dem nicht getanzt, aber sich partiturgenau bewegt werden muss.
In der Ballettschule treffe ich neben einer jungen Generation von Tanzwütigen auch Menschen, die als ehemalige Schüler nun Kollegen geworden sind. Das ist erfrischend und lehrreich. So arbeite ich zurzeit mit Jeanette Weck an einem interdisziplinären Projekt mit den Architekturstudenten der Fachhochschule für angewandte Wissenschaften zusammen. Es handelt von Intervallen, also von Proportionen, von der Geometrie der Bewegung, also von der "Mathematik der Gefühle".

Was verbirgt sich hinter dem Titel Ihrer neuesten Komposition „Tempo giusto“?
Sie hatten zunächst vor, für das ensemble acht eine 10 - 15minütige Komposition zu schreiben. Sie haben dann Texte, sogenannte „rudiments“ verfasst. Jetzt gibt es Tempo giusto in zwei Fassungen: Eine Konzertsuite (die am 18.06.2004 zur Uraufführung kommt) und eine Musik zu einer choreographischen Imagination. Können Sie beschreiben, wie sich dieser Entwicklungsprozess vollzogen hat?


Ach, dieses Tempo giusto... Odysseen... Als ich 2000 zusagte, ein Stück zu schreiben, war schöpferisch gesehen mal wieder rabenschwarze Nacht bei mir. Burn-out. Auf die liebe Seele wirkt das wie Langzeitarbeitslosigkeit. Damals beschäftigte ich mich mit der Sonata da Camera und der Sonata da Chiesa, die Kinder der Suite, also der Tanzmusik, waren. Wie verständigten sich die Musiker, die allesamt Tanzmusiker waren, über das Tempo dieser neuen Kammermusiken? Aus der Struktur der Partituren erkannten sie die dahinter schlummernden Tänze wie Allemanda, Sarabanda, Giiga etc. und spielten sie im "richtigen Tempo". Das ensemble acht ind für mich Nachfahren dieser Tanzmusiker. Ich hatte mir zum ersten Mal vorgenommen, den Entstehungsprozess in Arbeitsberichten, den sogenannten „rudiments“, Tagebüchern und Korrespondenzen mit mir damals nahestehenden Personen zu dokumentieren. Welche Einflüsse tragen dazu bei, das burn-out-Syndrom zu überwinden, damit ich wieder lichterloh für die Musik brennen kann? Ein mir Vertrauter wies mich mit feinster Ironie darauf hin, dass auch E.T.A. Hoffmannsche Figuren wie Olympia, Antonia oder gar Giulietta das ihre dazu beigetragen haben. Vor Ironie geh' ich ins Knie. Wie auch, dieser Prozess wurde für mich das Programm einer imaginären Choreographie, zu der ich die Musik schrieb. Mir ist der Gedanke sympathisch, dass das Ensemble sich in einer Art work in progress die einzelnen Teile erarbeitet. Nicht anders ist das Stück über einen langen Zeitraum entstanden. Ein Gedanke zur Ökonomie der Komposition. Früher fragten mich die Leute, woher ich in meinen Stücken die vielen Noten nehme würde. In der Tat, ich war unglaublich verschwenderisch mit den musikalischen Affekten, sozusagen barock. Tempo giusto ist ganz anders. Jede Note ist wie der Groschen, den man dreimal umdreht, bevor man ihn ausgibt. Das Detail wird wichtiger als das Ganze. Darin liegt die Power. Das Ganze ist immer eine Angelegenheit des Referierens, das Detail eine des Erlebten. Diese Form des Erlebens erfuhr ich kürzlich beim Zuhören des Schubert-Oktetts durch das Ensemble Acht. Es macht mich zuversichtlich in Bezug auf Tempo giusto.

Sie leben seit vielen Jahren in Hamburg und haben dort die Entwicklung der zeitgenössischen Musik verfolgen können. Was fehlt Hamburg, was vielleicht andere Großstädte haben? Welche Impulse benötigt die „Hamburger Musikszene“? Gibt es in der Hansestadt einen passenden Konzertsaal für Kammermusik?

Ich bin Berliner und seit dicke dreißig Jahren zu Gast in Hamburg. Hamburg ist immer sehr, sehr lieb zu mir gewesen. Aber eine Stadt ist immer mehr als eine Stadt, es ist eine Angelegenheit des Herzens. Und seitdem es wieder das riesengroße Berlin gibt mit seinen Widersprüchen und großen Klappen, diese Topographie aller meiner Projektionen, weichen die Hamburgensien Ihrer Frage meinen Sehnsüchten nach meiner Heimatstadt.