Thomas Jahn


Uraufführung
18. Juni 2004
Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe – Spiegelsaal
ensemble acht


Vita – Thomas Jahn

1940 geboren in Berlin, Vater Journalist und Schriftsteller, Mutter Sängerin.
1962 Kompositionsstudium bei Heinz Friedrich Hartig an der Hochschule für Musik in Berlin (Kontrapunkt bei Ernst Pepping, Zwölftonanalyse bei Josef Rufer, Instrumentation bei Frank Michael Beyer).
1966 Posaunenstudium an den Musikhochschulen in Berlin und Hamburg.
1968 Dozent für Posaune und schulpraktisches Musizieren an der HfMdK Hamburg.
Dirigierstudium bei Alfred Bittner.
1969 Arbeitsaufenthalt in Los Angeles, Unterweisung in Arrangement, Instrumentation und Aufnahmetechnik von Pop Music, Teilnahme an den Darmstädter Ferienkursen.
Mitbegründer des Ensembles „Hinz & Kunst“.
1973 Musikalische Leiter am Thalia Theater Hamburg
1975 Studium bei Hans Werner Henze
1978 Zusatzstudium in Musiktheorie bei Werner Krützfeld an der HfMdK Hamburg
1979 Förderpreis des „Bachpreis der Freien und Hansestadt Hamburg“
Lektor in einem Hamburger Musikverlag.
1986 freischaffender Komponist und Dozent in Hamburg

www.thomasjahn.com

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Interview mit Thomas Jahn

Die Fragen stellte Stefan Schäfer.

Stefan Schäfer: Beim Blick auf Ihre Biografie fällt auf, dass Sie nicht nur eine sehr breitgefächertes Musikstudium (Komposition-, Instrumental- und Dirigierstudium) absolviert haben, sondern auch in verschiedenen Bereichen der Musikbranche tätig waren. Sind das unverzichtbare Voraussetzungen, um als Komponist zu arbeiten?

Thomas Jahn: Natürlich nicht. Ich war einfach neugierig. Zurück blickend verstehe ich es als ein "Auf Fortbildung sein". Einerseits verdiente ich mein Geld bereits als Dozent an der Hamburger Musikhochschule, bei dem Ensemble Hinz & Kunst und später in einem Hamburger Musikverlag und bildete mich gleichzeitig weiter. Ich glaube, das hört niemals auf.

Sie haben u.a. bei Hans Werner Henze studiert, und mit ihm beim Aufbau des Festivals „Cantiere Internationale d´Arte“ in Montepulciano zusammengearbeitet. Sie kennen Henze seit vielen Jahren und sind ihm freundschaftlich verbunden. Der Untertitel von Tempo giusto – Musik zu einer choreographischen Imagination – erinnert an einige Kompositionen Henzes. Welchen Einfluss hat Henze auf Ihre kompositorische Arbeit?

Sie spielen mit Recht auf eine Komposition wie zum Beispiel El Rey de Harlem – „Imaginäres Theater für...“ von Henze an. Die Zusammenarbeit mit ihm gehört zu den prägenden Eindrücken meines Lebens. Das lag an den Umständen. Die Mitarbeit fand in einer Zeit statt, in der ich als Lernender auf ihn als einen ebenfalls Lernenden traf. Wir waren sozusagen beide "Auf Fortbildung". Er hatte das "Cantiere Internazionale d'Arte" in Montepulciano, Toscana, ins Leben gerufen, und er hatte so etwas niemals vorher gemacht. So erlebte ich einen Menschen, der ein Wagnis ohne Netz und doppelten Boden unternahm. Er hatte einen Traum, und unentwegt ohrfeigte ihn die Realität, aber mit , wie soll ich sagen, machiavellischer Verbissenheit setzte er diesen Traum um. So nahm ich teil an einem Prozess, in dem der Lehrer zugleich als Starker und Schwacher auftrat. Wie ehrlich. Einen ganz Starken in seinen ganzen Schwächen zu erleben, ist der beste Kompositions - und Lebensunterricht, den man sich vorstellen kann.

Sie waren Mitbegründer der Musikgruppe Hinz und Kunst. Was war das Besondere an diesem Ensemble ? Was hat Hinz und Kunst von heutigen Neue Musik-Ensembles unterschieden? Warum ist die Gruppe auseinandergefallen?

Ich fange mit der letzten Frage an. Das Ensemble fiel auseinander, weil die Zeit auseinander fiel. Das Ensemble wäre ohne die Studentenbewegung der 68er nicht entstanden. Doch mit der Abendröte der Bewegung begann auch das Ende von Hinz & Kunst. Das Ensemble unterscheidet sich deshalb von anderen, weil es einfach ein Kind seiner Zeit war. Ich habe das mit meinem für das Ensemble komponierten Nonett Zeitgeist zu reflektieren versucht. Das Image des Ensemble bestand in der Einheit von Produktion und Reproduktion. Wie zu Zeiten der Commedia dell`arte waren wir die Spielmannsleute und Gaukler, die sich ihre Stücke selbst schrieben und aufführten.

Heute unterrichten Sie u.a. als Dozent für Musiktheorie an einer Ballettschule. Welche Anregungen oder Folgen für Ihre eigene kompositorische Arbeit entstehen aus der Arbeit mit Tänzern und Choreographen?

Meine Affinität zum Ballett geht zurück auf die Zusammenarbeit mit William Forsythe und besteht nicht erst, seitdem ich an der Erika-Klütz-Schule unterrichte. Dazu eine Geschichte: Als Henze uns zusammenbrachte, sagte ich zu Forsythe, dass mich nur eine Form der Choreographie interessiert, die der Marschformationen von Blaskapellen auf den Fußballfeldern vor einem Fußballspiel. So entstand unser Jakobinerballett Tis pity she`s a whore nach dem 1633er-Drama von John Ford. Es begann mit einem bombastischen Marsch für ein Riesenblasorchester auf der Piazza von Montepulciano, und zwischen den in Reih und Glied aufgestellten Musikern wuselten die Tänzer und Tänzerinnen und brachten die Formationen so durcheinander, dass nur noch eine einsame Es-Klarinette übrig blieb. Ich war begeistert, weil sich darin sein tiefes Verständnis für meine choreo-graphischen Visionen ausdrückte. Das Stück endete übrigens mit Inzest, Denunziation, Intrigen, Vergewaltigung, Mord und Totschlag. Nur Leichen von schönen Tänzern und schönen Tänzerinnen. Alles choreographisch. Dazu läuteten alle Glocken des Duomo, die Blaskapelle machte sich auf und davon. Noch einmal, ich war begeistert. Das spätere Gänge - Projekt von Forsythe, Michael Simon und mir hat mein Interesse an der Choreographie vertieft. Wir knüpften an die literarischen Strukturalisten wie Robbe - Grillet und Semiotiker wie Barthes und Eco an und betraten Neuland. Mein "poetisches Musiktheater" nach Texten von Gertrude Steins Tender Buttons ist ein aus dem strukturalistisch - choreographischen Geist geborenes Bühnenwerk, in dem nicht getanzt, aber sich partiturgenau bewegt werden muss.
In der Ballettschule treffe ich neben einer jungen Generation von Tanzwütigen auch Menschen, die als ehemalige Schüler nun Kollegen geworden sind. Das ist erfrischend und lehrreich. So arbeite ich zurzeit mit Jeanette Weck an einem interdisziplinären Projekt mit den Architekturstudenten der Fachhochschule für angewandte Wissenschaften zusammen. Es handelt von Intervallen, also von Proportionen, von der Geometrie der Bewegung, also von der "Mathematik der Gefühle".

Was verbirgt sich hinter dem Titel Ihrer neuesten Komposition „Tempo giusto“?
Sie hatten zunächst vor, für das ensemble acht eine 10 - 15minütige Komposition zu schreiben. Sie haben dann Texte, sogenannte „rudiments“ verfasst. Jetzt gibt es Tempo giusto in zwei Fassungen: Eine Konzertsuite (die am 18.06.2004 zur Uraufführung kommt) und eine Musik zu einer choreographischen Imagination. Können Sie beschreiben, wie sich dieser Entwicklungsprozess vollzogen hat?

Ach, dieses Tempo giusto... Odysseen... Als ich 2000 zusagte, ein Stück zu schreiben, war schöpferisch gesehen mal wieder rabenschwarze Nacht bei mir. Burn-out. Auf die liebe Seele wirkt das wie Langzeitarbeitslosigkeit. Damals beschäftigte ich mich mit der Sonata da Camera und der Sonata da Chiesa, die Kinder der Suite, also der Tanzmusik, waren. Wie verständigten sich die Musiker, die allesamt Tanzmusiker waren, über das Tempo dieser neuen Kammermusiken? Aus der Struktur der Partituren erkannten sie die dahinter schlummernden Tänze wie Allemanda, Sarabanda, Giiga etc. und spielten sie im "richtigen Tempo". Das ensemble acht ind für mich Nachfahren dieser Tanzmusiker. Ich hatte mir zum ersten Mal vorgenommen, den Entstehungsprozess in Arbeitsberichten, den sogenannten „rudiments“, Tagebüchern und Korrespondenzen mit mir damals nahestehenden Personen zu dokumentieren. Welche Einflüsse tragen dazu bei, das burn-out-Syndrom zu überwinden, damit ich wieder lichterloh für die Musik brennen kann? Ein mir Vertrauter wies mich mit feinster Ironie darauf hin, dass auch E.T.A. Hoffmannsche Figuren wie Olympia, Antonia oder gar Giulietta das ihre dazu beigetragen haben. Vor Ironie geh' ich ins Knie. Wie auch, dieser Prozess wurde für mich das Programm einer imaginären Choreographie, zu der ich die Musik schrieb. Mir ist der Gedanke sympathisch, dass das Ensemble sich in einer Art work in progress die einzelnen Teile erarbeitet. Nicht anders ist das Stück über einen langen Zeitraum entstanden. Ein Gedanke zur Ökonomie der Komposition. Früher fragten mich die Leute, woher ich in meinen Stücken die vielen Noten nehme würde. In der Tat, ich war unglaublich verschwenderisch mit den musikalischen Affekten, sozusagen barock. Tempo giusto ist ganz anders. Jede Note ist wie der Groschen, den man dreimal umdreht, bevor man ihn ausgibt. Das Detail wird wichtiger als das Ganze. Darin liegt die Power. Das Ganze ist immer eine Angelegenheit des Referierens, das Detail eine des Erlebten. Diese Form des Erlebens erfuhr ich kürzlich beim Zuhören des Schubert-Oktetts durch das Ensemble Acht. Es macht mich zuversichtlich in Bezug auf Tempo giusto.

Sie leben seit vielen Jahren in Hamburg und haben dort die Entwicklung der zeitgenössischen Musik verfolgen können. Was fehlt Hamburg, was vielleicht andere Großstädte haben? Welche Impulse benötigt die „Hamburger Musikszene“? Gibt es in der Hansestadt einen passenden Konzertsaal für Kammermusik?

Ich bin Berliner und seit dicke dreißig Jahren zu Gast in Hamburg. Hamburg ist immer sehr, sehr lieb zu mir gewesen. Aber eine Stadt ist immer mehr als eine Stadt, es ist eine Angelegenheit des Herzens. Und seitdem es wieder das riesengroße Berlin gibt mit seinen Widersprüchen und großen Klappen, diese Topographie aller meiner Projektionen, weichen die Hamburgensien Ihrer Frage meinen Sehnsüchten nach meiner Heimatstadt.

aus: impulse Nr. 7, Mai 2004

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Über das Ensemble Hinz & Kunst (1969-81) und den Komponisten Thomas Jahn
von Bernhard Asche und Wolfgang Florey

Das Ensemble Hinz & Kunst wurde 1969 an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Hamburg gegründet – aus Interesse an neuen musikalischen Strömungen und Experimentierlust, an der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik, die im Ausbildungsplan der Musikhochschule so gut wie nicht vorkam.

Durch gemeinsames, stundenlanges frei improvisierendes Musizieren in verschiedenen Formen und Konzepten versuchten wir zu neuer Art der Musikausübung zu gelangen, die die Trennung in „reproduzierende“ und „produzierende“ Musiker endlich aufhob.

Die Sechziger Jahre waren in musikalischer Hinsicht geprägt von den verschiedensten sich überlagernden und durchaus nicht homogenisierbaren Strömungen. Uns beschäftigte die Tatsache, dass Musik seit eh und je diejenige der Künste ist, die am wenigsten mit ihrer Zeitgenossenschaft etwas anzufangen weiß, was wahrscheinlich auf Gegenseitigkeit beruht.

Fühlte sich die gemäßigte Moderne, anknüpfend an den musikpädagogischen Versuchen Hindemiths und Orffs, noch für die ästhetische Erziehung der nachwachsenden Generation verantwortlich, so beschränkte sich der soziale Bezug der jetzt tonan-gebenden Komponistengeneration im wesentlichen auf die Vorteilnahme aus einem hochsubventionier-ten Kulturbetrieb. Die musikalische Avantgarde scherte sich nicht im mindesten darum, dass sich das Musikleben währenddessen in einen Marktplatz verwandelte, der vom Propagandageschrei der Marketingspezialisten einer sich ins ökonomisch gigantische aufschwingende Unterhaltungsindustrie widerhallte, die von nun an bestimmen sollte, welcher Ton die Musik der Zukunft machte. Von den Institutionen des Musiklebens, den Konzertsälen und Opernhäusern, deren gesellschaftliche Verantwortung sich ohnehin in der Verpflichtung zu einer mehr oder minder musealen Wiedergabe von musikalischen Antiquitäten erschöpfte, war in bezug auf die gewaltige Metamorphose des Musiklebens wenig Widerständiges zu erwarten, zumal sie ökonomisch noch munter im wirtschaftswunderbaren Wohlstand vor sich hin speckten. Es schienen keine zwingenden Gründe für den Musikbetrieb zu bestehen, von überkommenden Musikkonzepten abzuweichen oder sich in welche Weise auch immer neuen Publikumsschichten zu öffnen. Sowieso war den seriösen Musikern mitsamt der Zunft der Musikwissenschaftler die Beschäftigung mit den Ge-setzen des Marktes genauso fremd wie eine Ausei-nandersetzung mit den Erscheinungen der neuen, industriellen Massenkultur. Mit ihren musikalischen Genres wollten diese genauso wenig zu tun haben, wie die Bürger mit dem Plebejer.

Was sich jedoch entscheidend geändert hatte, war, dass die zukünftige gesellschaftliche Elite sich nicht länger in den Musentempel ihrer Vorfahren zum Guten , Wahren und Schönen erziehen lassen wollte, sondern den ihr gemäßeren musikalischen Ausdruck in den subkulturellen Novitäten der kommerziellen Rock- und Popmusik zu finden glaubte. Das hatte allerdings keine primären musi-kalische Ursachen, sondern war das Ergebnis eines fundamentalen gesellschaftlichen Paradigmenwechsels. Dieser war es, der es uns unmöglich zu machen schien, über Musik nachzudenken, ohne wenigstens den Versuch zu unternehmen, die sozialen Aspekte, denen das Musikmachen unterworfen war, zu verstehen. Und indem wir uns darum bemühten, fanden wir uns bald in einer reichlich un-wirtlichen Landschaft wieder und hineingestellt in ein politisches System, das von den Widersprüchen des Kalten Krieges geprägt war.

Der Krieg in Vietnam wurde für uns zu einer grundlegenden moralischen Frage und führte dazu, dass das bis dahin einigende ideologische Fundament, auf das alle Parteien des Landes sich beriefen, böse Risse bekam. Gemeint ist nicht das Grundgesetz der Bundesrepublik, sondern der bis dahin alles beherrschende Antikommunismus. So kam es zu einem immer breiter geführten Diskurs über die Bedeutung der Marxschen Analyse des Kapitalismus und seiner Kritik der Politischen Ökonomie.

Und auf dem Gebiet der Künste wurde immer lebhafter diskutiert über die Rolle des „Ästhetischen bei der Scheinlösung von Grundwidersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft“, über die „Bedeutung und Funktion der Massenkultur und Massenkommunikation im spätkapitalistischen System“, über die „Klassenbezogenheit der herrschenden Kunst“ und darüber, dass „Kunst notwendige Inhalte verständlich und wirksam verbreiten müsste“. Wie nun aber die musikalischen Modelle konkret auszusehen hätten, die den neuen Anforderungen gerecht werden könnten, dafür schien es uns zunächst nur we-nig Beispielhaftes zu geben.

Für uns Musikstudenten wurde de Allgemeine Studentenausschuss (AStA) der Musikhochschule in dieser Zeit zu so etwas wie einer organisatorischen Plattform nicht nur der politischen, sondern auch der ästhetischen Diskussion. Hier kam es auch zur ersten Begegnung mit Hans Werner Henze. Zeitlich fiel sie in die Vorbereitungszeit der geplanten Uraufführung seines Oratoriums Das Floß der Medu-sa im Herbst 1968. Unsere Erwartungen waren groß, aber nicht geringer war unsere Skepsis, ob gerade sein Werk uns ein Beispiel geben könne. Die Lektion wurde uns aber nicht vom Komponisten, sondern – wie allgemein bekannt – von der Polizei erteilt. Am Abend der Uraufführung erklang in der Ernst-Merck-Halle keine Note. Zu vernehmen war nur ein Sprechchor, der nicht in der Partitur stand. Der RIAS-Kammerchor skandierte, als Henze zum Beginn des Konzerts den Taktstock hob: „Wir kommen aus Berlin – wir singen nicht unter der roten Fahne“. Diese Erklärung leitete eine der größten Konzertskandale in der Geschichte der BRD ein. Er endete mit dem Einsatz einer Hundertschaft der Polizei im Konzertsaal, die einer größeren Anzahl von Konzertbesuchern zur Feststellung der Personalien vorrübergehend festnahm.

Doch ein konkretes Ergebnis hatte dieses Ereignis: Seitdem gab es in Hamburg einen „Arbeitskreis Sozialistischer Musikstudenten“.

Ausgehend von ihm bildeten sich eine ganze Reihe von studentischen Diskussions- und Arbeitsforen. Hier wurden nicht nur Forderungen zur Studien- und Strukturreform der Musikhochschule entwickelt, es ging auch ganz konkret um die Erprobung alternativer musikalisch praktischer Ansätze – und damit um vieles, was für das spätere Selbstverständnis der Gruppe Hinz & Kunst von Bedeutung war.

Und schließlich lernten wir die musikalisch-politische Arbeit der „Hamburger Liedermacher“, einem Kreis von engagierten Laien um Renate Bauche, und der „Hamburger Songgruppe“ kennen, woraus sich eine mehrjährige Zusammenarbeit ergab. Und im Rahmen der Musikhochschule war es Jürgen Tamchina, Theatermusiker und Kinderbuchautor, später auch Komponist und Theaterre-gisseur, der damals mit Schauspielstudenten ein Programm mit Liedern von Eisler erarbeitete. Der Kreis von Musikern der sich hier als Begleitensemble zusammenfand, konstituierte sich später als Hinz & Kunst. Es setzte sich im Kern zusammen aus dem Klarinettisten und Saxophonisten Bernhard Asche, dem Posaunisten und Komponisten Thomas Jahn, der Pianistin und Musiktheoretikerin Hedwig Florey, dem Schlagzeuger Peter Wulfert (an dessen Stelle später Matthias Kaul trat) und dem Cellisten Wolfgang Florey.

Jürgen Tamchina, der an der Entwicklung einer vorschulpädagogischen Fernsehreihe für das ZDF arbeitete und den Auftrag erhielt, für eine Serie von Sendungen Lieder für Puppenspieler zu schreiben, stützte sich im Kern auf dieses Ensemble von In-strumentalisten. Thomas Jahn gab den Liedern ihre klangliche Gestalt und schrieb die Arrangements. Als „Die Lieder von der Rappelkiste“ wurden die Aufnahmen zu einem riesigen Schallplattenerfolg. Die Liedtexte von Tamchina machten im Sinne eines emanzipatorischen Erziehungskonzeptes den Kindern Mut zu einem selbständigen Urteil und Handeln in verschiedenen realistisch geschilderten Lebenssituationen. Dem gleichen pädagogischen Ziel folgend widersetzte sich die musikalische Sprache der Lieder dem in diesem Genre inzwi-schen verbreiteten kommerziellen Sound und knüpfte bewusst am traditionellen Kinderlied an. Das Instrumentarium der Begleitung war dem Bereich der klassischen Musik entlehnt und entfaltete seinen Zauber mit spieltechnischer Raffinesse und einem Witz, der sich der Erfahrung mit der Moderne ebenso verdankte, wie der Zusammenarbeit mit den Hamburger Liedermachern.

Das Selbstverständnis von Hinz & Kunst ist das Ergebnis auch anderer Erfahrungen. Sie gehen zurück auf zwei sehr verschiedene Aspekte der Diskussion in den studentischen Basisgruppen. Der eine betrifft die Frage nach der Aufhebung der Teilung der Arbeit in eine Sphäre der geistigen und eine der materiellen sowie die Frage nach der Überwindung ihrer Entfremdung. Der andere As-pekt betrifft das Konzept einer Politik der gewerkschaftlichen Orientierung. Konkret auf dem künstlerischen Gebiet bedeutete dies, dass nicht nur allgemein der Mensch, sondern der arbeitende Mensch in den Mittelpunkt des künstlerischen Interesses rücken müsse.

Dieser Zusammenhang fand seinen Niederschlag in einer gemeinsamen kompositorischen Arbeit, die H.W. Henze vorschlug.. Ein Text war bald gefunden, nämlich eine aktuelle Recherche der Fernesehjournalistin Erika Runge über einen „wilden“ Streik in einem Walzwerk der Firma Mannesmann, Duisburg. Jeder der Komponisten, auch H.W. Henze, übernahm es, einen Teil des Textes in Musik zu setzen, und das Ganze wurde schließlich als Szenische Kantate von einem Ensemble, das sich im Kern aus der Gruppe Hinz & Kunst zusammensetzte, einstudiert. Unter tätiger Mithilfe von Ruth Berghaus und in Anwesenheit von H.W. Henzes und der meisten Komponisten wurde das Werk im Theater am Schiffbauerdamm im August 1973 uraufgeführt. Für die Schallplatteneinspielung dieser Kantate Streik bei Mannesmann erhielt Hinz & Kunst von der Deutschen Phonoakademie 1975 die Auszeichnung „Künstler des Jahres“.

Mit diesem Werk verknüpft ist der Beginn einer langjährigen Freundschaft und Zusammenarbeit des Ensembles Hinz & Kunst mit Hans Werner Henze. Er lud das Ensemble zur Mitarbeit an seinem „Cantiere Internazionale d´Arte“ ins toskanische Montepulciano ein, wo das Ensemble über eine Reihe von Jahren neben Konzerten und instrumentalen Begleitaufgaben im kleinen Opernhaus konkrete Musikanimationsarbeit leistete.

Aus Anlass seines fünfzigsten Geburtstages baten die Hinz & Künstler Henze um einen Gegenstand, um den Jubilar überhaupt würdig mit Musik bedenken zu können, und so bekam Hinz & Kunst ein Stück Musik, das für die Kernbesetzung der Gruppe spielbar war. Es ist ein Quintett und trägt den schlichten Namen Amicizia!. Es erklang zum ersten Mal 1976 bei einem Kammerkonzert von Hinz & Kunst im Teatro di Montepulciano.

In Erinnerung des alten Anspruches, die Arbeitsteilung des Musikers in einen reproduzierenden und einen produzierenden zu überwinden, und angeregt durch die konkreten Aufgaben unserer künstleri-schen Praxis gingen wir auch daran, nicht nur als Einzelne, sondern auch als Gruppe schöpferisch tätig zu werden. Für Montepulciano entwarfen wir das Libretto und schrieben die Musik zu einem Singspiel, das wir beim „3. Cantiere Internazionale d´Arte“ in Montepulciano und einer Reihe umlie-gender Ortschaften aufführten. Für dieses Stück, das wir Mongomo in Lapislazuli nannten, erhielten wir den Preis der Jury des Komponistenseminars in Boswil (Schweiz). Es folgten noch zwei weitere Arbeiten: das Musical Komm, Collie wir gehen in´s Öl, das beim Steirischen Herbst 1981 uraufgeführt wurde, und das Ballett Der Schal. In beiden Fällen war die Gruppe Librettist, Komponist und schließlich ausführendes Instrumentalensemble.

Als Instrumentalensemble hatte sich Hinz & Kunst im Verlaufe der Jahre ein beachtliches Repertoire an zeitgenössischer, vornehmlich engagierter Musik erarbeitet und eine ganze Reihe von Komponisten haben für Hinz & Kunst geschrieben, insbesondere wieder H.W. Henze, der sein imaginäres Musiktheater El Rey de Harlem für Mezzosopran und acht Instrumentalisten für Hinz & Kunst schrieb. 1980 brachten wir es im Rahmen der „Wittener Tage für Neue Kammermusik“ mit Maureen McNally und unter der Leitung von Spiros Argiris zur Uraufführung.

Die Geschichte der Gruppe Hinz & Kunst endet mit dem Jahr 1981. Die Gründe für das Scheitern waren vielfältig. Einige sollten wenigstens benannt sein.

Schwierig war natürlich die materielle Basis der künstlerischen Arbeit. Eine finanzielle Förderung der Gruppe durch wie auch immer geartete Subventionen gab es gut wie überhaupt nicht, und Förderungsanträge wurden in der Regel kategorisch abgelehnt. Die Freie und Hansestadt Hamburg erwies sich in ökonomischer Hinsicht als besonders trostloses Terrain. Ohne jede Subvention kann man in einem hochsubventionierten Umfeld nicht bestehen. Das ist auch große Einsicht in Wirtschaftsfragen nicht schwer zu begreifen. Aber auch andere Möglichkeiten, uns eine materielle Basis für unsere Arbeit zu gewinnen, blieben uns in dieser Stadt weitgehend verwehrt. Während wir bei anderen Rundfunkanstalten regelmäßig zu Gast sein durften, blieb uns der Zugang zum NDR verschlossen. Die aus alledem folgenden existentiellen Schwierigkeiten hatten natürlich eine immer stärkere Fluktuation im Ensemble zur Folge, weil niemand die Arbeit mit Hinz & Kunst längerfristig in den Mittelpunkt seiner beruflichen Tätigkeit stellen konnte. Damit wurde aber das eigentliche Ziel, nämlich ein Modell der künstlerischen Arbeit zu entwerfen, in dem ihre Entfremdung gesellschaftlich quasi antizipato-risch aufgehoben ist, immer unerreichbarer. Damit geriet aber der Anspruch, mit dem wir angetreten waren, mit der Wirklichkeit, die sich aus unseren Arbeitsbedingungen ergab, in einem immer krasse-ren und nicht mehr aufzulösenden Widerspruch. Das Ziel, mit unserer Arbeit eine Alternative aufzuzeigen und diese im Musikleben nachhaltig zu etablieren, war uns zur uneinlösbaren Utopie zerronnen.

Thomas Jahns Ausbildung als Komponist und Posaunist ermöglichte es ihm, den Produktions- und Reproduktionsgedanken des Ensembles Hinz & Kunst in seiner Person zu vereinen. Das Herstellen von Musik war für ihn ein Kommunikationsprozess. Diese Haltung, gang und gäbe im Bereich der Jazz- und Popmusik, war im Bereich der sogenannten ernsten Musik eher ungewöhnlich. Sie prägte das Ensemble, und das Feedback prägte auch ihn und seine Produktion. So schrieb er neben einer Fülle von Songs und Arrangements auch konzertante Musiken wie sein Nonett Zeitgeist und Akkordarbeit, vokalinstrumentale Kompositionen wie Denkzettel und seine drei Opernszenen The zoolo-gical palace für das Ensemble Hinz & Kunst. Das Erstellen von musikalisch-theatralischen Konzepten im Verbund mit anderen fand seinen Niederschlag in den oben erwähnten Gemeinschaftsarbeiten. Und auch heute noch legt Thomas Jahn großen Wert auf konzeptionelle Zusammenarbeit wie sein Wirken bei den Eppendorfer Blechbläsern, dem Ensemble Undezett oder dem Intervall-Projekt an der Erika-Klütz-Schule für Theatertanz und Tanzpädagogik in Verbindung mit der Fachschaft Architektur an der Fachhochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg beweist.

aus: impulse Nr. 7, Mai 2004

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Aufführung als „work in progress“
von Hanns-Werner Heister

Im Kontext eines Konzerts mit einem wohlausbalancierten Programm wurden am 18. Juni 2004 vier Sätze des insgesamt dreizehnteiligen, suitenartigen Gesamtwerks uraufgeführt: Energy, Code, Tabbing, Fever. Über diese bislang vom ensemble acht, sozusagen die Interpretation als „work in progress“, vier einstudierten Teile hinaus ist eine allmähliche Vervollständigung vorgesehen. Das hängt natürlich von Aufführungsmöglichkeiten ab.

Das Thomas Jahn sein im Januar 2004 fertiggestelltes Werk just 13-teilig anlegt (er hätte ebenso gut die nicht nur musikalisch geheiligte 12-Zahl wählen können), zeigt, wie fern ihm der weitverbreitete Aberglaube ist (jener Aberglaube, der sich vom Glauben nur im Bewusstsein der jeweils Glaubenden grundsätzlich unterscheidet). Dass die Aufführung und Ausführung perfekt war, jedenfalls soweit sich das auf Grundlage des Konzert-Ereignisses ohne ausführliche Analyse des Werk- und Notentexts sagen lässt, und sowieso die „Energie“ und die emotionale wie musiksprachliche Spannweite der Stücke dem Publikum angemessen vermittelte, versteht sich bei dem Ensemble fast von selbst. Es ist, wie bekannt, auch mit anderen Aufträgen an lebende Komponisten hervor- und aufgetreten.

Der ausführliche Werktitel verweist auf eine Spezialität und Affinität von Thomas Jahn, die sich in Werken für Montepulciano wie für Hamburg und anderswo und in verschiedenen um Tanz zentrierten Ausprägungen des Gesamtkunstwerks konkretisiert hat, nämlich die Musik fürs Ballett: Tempo giusto – Musik zu einer imaginären Choreographie. 13 Rudiments. Mit dem zweiten Untertitel „Rudimente“ lässt sich Jahn allerdings (apropos Aber-Glaube) ein Hintertürchen offen. Mit 14 Nummern wäre er bereits bei der Zahl von Bach (2+1+3+8) oder den 14 Nothelfern. Der Ballett-Bezug, hier notwendigerweise imaginär, erklärt die suitenartige Anlage des Gesamtwerks. Jahn zielt nicht auf eine Entwicklungs-Dramaturgie, die teleologisch Anfang, Höhepunkt(e) und Zielpunkt hätte, sondern reiht, parataktisch, die einzelnen Teilstücke. Die Nähe zum Gattungs- und Formungstypus Suite ist evident.

Upbeat [Auftakt]
Energy
Tango mortale I (Media vita in morte)
Tabbing [Etikettieren]
Code
Tango mortale II (Media vita in morte)
Fever
Monologue interieur
Relax
Passion
Tango mortale III (Media vita in morte)
Black out (The same is not the same)
Fugue

Trotz des Verzichts auf die linear durchlaufende Entwicklungs-Dramaturgie zeigen sich doch ersichtlich übergreifende Orientierungs- und Formungsüberlegungen. Der stilisierte Tanzsatz Tango mit dem sinistren Adjektiv „mortale“ kehrt, wie ein dreifacher Anlauf zum Salto mortale, strukturierend wieder. Nicht erfreulicher klingt der sinistre Verweis auf einen alten christlichen Topos, das choralische „Media vita in morte sumus“ – in der deutschen Coverversion „Mitten in dem Leben sind / wir vom Tod umfangen“. Die musikhistorischen Bögen dazu komponiert Jahn wie ein Kreuz-Gewölbe. Dem Tango I unterlegt ist ein recht strikt, eben „giusto“, durchgehaltener abanera-Rhythmus. Der Choral klingt wie eine Art cantus firmus an (Vl. I, T. 19-23).

Beim Tango II erweitert Jahn den Gewölbe-Bogen zur Tradition. Er zitiert einen dreistimmigen Satz des „Media in vita“ des Barockkomponisten Michael Praetorius. Die Besetzung in extrem hohen Lagen von Viola, Violoncello und vor allem des Kontrabasses, ist eine erste Verfremdung. Violinen bleiben in diesem Satz ausgespart. Kontrapunktisch-kontrastierend setzt Jahn dem in den drei Bläsern das Tango-Modell entgegen, wieder beginnend mit dem (hier aufsteigenden) Kernmotiv Kleinterz-Halbton. Das ist tonal ambivalent, verweist auf Moll wie auf Dur – die wegen der beiden andern Stimmen ins Poly- oder Atonale gewendet erscheinen. Der Tod und Madame la Mort erscheinen ebenso wie der Eros in androgyner, bisexueller Gestalt.

Im Tango III ist der choralische cantus firmus ins Gewebe unhörbar zurückgenommen. Dafür treten, noch fundamentaler, lange Haltetöne in verschiedenen Instrumenten, Orgelpunkte, umso deutlicher hervor – ein merkwürdig wattierter Tango, dennoch mit einigem „dolce, espressivo“ samt einigen gezackten Gesten.

Aber nicht nur Tod und Teufel, sondern auch der Ritter, neuzeitlich gewandet treten auf. (Hier dürfen wir im Gegensatz zu Dürer den drei Herren auch eine Dame zuordnen.) Auf Eros als Gegenpol zu Thanatos/Tod verweisen in freilich selber wieder zweideutiger Weise drei weitere Sätze.

Energy (Nr. 2) kommt tatsächlich energiegeladen daher, mit einem monumentalisierten typischen Bebop-Unisono aller Beteiligten. Das Unisono spaltet sich heterophon auf, endet schließlich mit der rhythmischen Grundfigur nur mehr auf einem einzigen Ton und in einer Stimme (Viola). Generalpause, nachhallend noch dreimal dann der Wechsel Viola-Takt / Generalpausen-Takt. Die Viola macht unbeirrt-stur weiter, immer mit ihrer Generalpause. (Satztechnisch erinnert diese Mono-Phonie in der Mittellage an Henry Purcells Phantasy Upon One Note, bei der den ganzen Satz hindurch die Mittelstimme ebenfalls mit einem einzigen Ton haushält – was Purcell die Gelegenheit zu dem extrem Simplen kontrastierenden harmonisch-satztechnischen Kabinettstückchen gibt.) Allmählich fängt sich das Ensemble wieder zu einer kurzen Rekapitulation des Anfangsteils.

Jazzstilistisch eine Phase weiter zurück liegt Tabbing. Es kommt jazzig-swingend daher, fast flott. Jahn denkt dabei etwa an den Stepptänzer Fred Astaire, auf den er sich auch in einem andern Werk bereits bezog. Einmal mehr zeigt Jahn hier seine Fähigkeit, heterogene Muster zu integrieren. Flott ist freilich flach – für Jahn bleibt der Satz eine „musica di ironia“. Relax schließlich ist zeitlich-stilistisch noch weiter, wenn auch nicht der musikalischen Substanz nach. Gleich zweimal schreibt Jahn hier Leichtigkeit vor: „conleggerezza (‚swinging’)“. Ein „riff“ bildet die refrainartige Basis; er verbindet Habanera-Synkope und Off-beat-Phrasierung. Es ist nett, freilich für Jahn ebenfalls Musik, die der Ironie und Kritik verfällt: „easy listening“, „small talk“.

Zwischen „Auftakt“ (Nr. 1) und „Fuge“ (Nr. 13) gibt es, vermittelt durch die angedeuteten Kontraste, eben doch einen großen Bogen. Eine übergreifende Vereinheitlichung zeigt sich nicht nur in der Idiomatik, die eben der bei Jahn nun freilich sehr vielfältigen Personalstilistik verpflichtet ist, sondern auch in einer relativ einheitlichen Material-Grundlage. Es ist eine dichte, zum chromatischen Total tendierende Tonhöhenordnung, in der Jahn Dodekaphonie einzubeziehen scheint, aber auch deutliche Bezüge zur traditionellen Tonalität wahrt. Mehrfach klingt die Dreitonformulierung c-es-e bzw. deren Umkehrung mit ihrem Oszillieren zwischen Dur und Moll (etwa in Tango II, Monologue interieur). Erweiterungen bzw. Varianten ist ein chromatisch absteigendes Viertonmotiv (so in „Code“ gleich zu Beginn, eingebaut in eine achttönige Bildung). Möglicherweise liegt hier ein Material- und Motiv-Kern des Werks überhaupt vor. Denn dieses viertönige Gebilde ist leicht durch Permutation und/oder Transposition in die Formel BACH zu transformieren.

Speziell in „Code“ verwendet Jahn offensichtlich einen wirklichen Code, nämlich den des Morsealphabets. Mit der bezeichnenden Anweisung „senza espressione, mechanico“ hämmern, fugato-artig hintereinander herjagend, Violine I, Klarinette und Violine II jeweils ein-tönig codierte Motive, deren Bedeutung im Biographischen liegen dürfte. Vom musikalischen Material her ähneln die Morse-Zeichen wiederum den Habanera/Tango-Synkopen – auch so vermittelt Jahn Musikimmanente und Musiktranszendierendes miteinander.

Auf die eigentümliche Besetzung des ensemble acht – Streichquintett plus Klarinette, Fagott, Horn -, die ansonsten bei älteren Werken natürlich in der Regel zu Bearbeitungen zwingt, ist Jahn, der das satztechnische Metier meisterhaft beherrscht, subtil eingegangen. Dabei variiert er gegebenenfalls, Gepflogenheiten und Fähigkeiten des Ensembles folgend, die Besetzung: die Nr. 8 „Monologue interieur“ ist, logisch als „innerer Monolog“, der Viola allein anvertraut. Es scheinen, soweit aus dem Notentext zu schließen, eher elegisch-verhangene Gedanken zu sein, die da jemand (der Komponist, dürfen wir doch vermuten) äußert. Der Grundtempo ist mit Viertel = MM 50 wirklich „tranquillo“, sehr ruhig und langsam. Ökonomisch und bündig formuliert Jahn seine musikalischen Gedanken. Hier sind es zwei kontrastierende Charaktere. Ein im Kern viertöniges Motiv (f-e-es-d) landet beim dritten Anlauf mit der Rufterz auf d; auch die absteigenden Halbtonschritte vermitteln den Charakter des „serioso“ – ernst ist (im Gegensatz zu Friedrich Schillers Annahme) die Kunst, mag auch das Leben heiter sein (oder so getan werden, als ob). Dieser Gedanke ist rhythmisch exakt notiert: „tempo giusto“. Als „tempo rubato“ (oder „parlando“ in Béla Bartóks Terminologie) antwortet ihm „senza misura“, ohne Takt eine rhythmisch aleatorische, nicht exakt festgelegte Passage. Beide Gedanken alternieren nun im folgenden. Interessanterweise ist dabei nur der zweite jeweils variiert. Der erste hält die einmal verwendete Formulierung unverändert fest. Nur beim allerletzten Mal wird sie wiederholt, und endet aufsteigend beim f. Dieses f übernimmt dann die Solo-Viola in ihrem „senza misura“ und führt es vom Piano bis zum verlöschenden Schluß – „niente“. Es ist vielleicht keine Überinterpretation, in einer solchen grübelnden, in sich kreisenden Gestaltung eine Neuformulierung des klassischen Typus Porträt des „Melancholikers“ zu sehen. Mit der realen Person des Komponisten hat das, solcher Brechungen durch Tradition und Material eingedenk, nur bedingt zu tun.

Beim vorletzten Erscheinen des „Senza misura“ enthüllt sich etwas von einem weiteren traditionellen Ausgangspunkt bzw. Hintergrund: Es ist schwer abweisbar, bei der Tonfolge a-as-c-h nicht an das bereits erwähnte B-A-C-H zu denken, das hier nur einen Halbton tiefer gesetzt ist.

Ebenfalls eine variierte, konkret ganz reduzierte Besetzung wählte Jahn für Passion (Nr. 10): ein Bicinium, einen Zwiegesang von Klarinette und Fagott. Hier kommt allerhand zusammen – das dann inhaltlich und satztechnisch-dramaturgisch nicht zusammenkommt. Die beiden Instrumente vertreten Frau und Mann – die androgyne Zweideutigkeit von Tango II ist hier in Eindeutigkeit zurückgeführt. Deutlich kontrastieren auch tempo giusto (Klarinette) und tempo rubato (Fagott): letzteres spielt „senza misura“, ohne Takt und ohne präzise metrisch-rhythmische Festlegung des Melodieverlaufs. Freilich nähern sich die Gegensätze im Satzverlauf einander etwas an. Trotz dem exakt notierten Rhythmus erlischt die metrische Bewegung durch die überlangen Pausen zwischen den stockend vorgetragenen Ein- oder Zweitonphrasen, oder wird durch die Figurierung in langen, bogenförmigen Koloraturen aufgelöst. Im Negativen sind die Gegensätze sogar identisch: Die Bezeichnung „Zwiegesang“ oder Dialog ist ein Euphemismus und benennt nur den strukturellen Rahmen. Tatsächlich aber dialogisieren die beiden Partner nicht, sondern monologisieren jeweils für sich. Erst in den letzten fünf Takten gibt es eine vorsichtige Gleichzeitigkeit der beiden, ansatzweise also einen Dialog.

„Tempo giusto“ (ungefähr: reguläres, richtiges, grade aus gehendes Tempo), schwer übersetzbare Bezeichnung für Musik mit regelmäßigen, tendenziell taktartigem, tänzerischem Rhythmus, erscheint über weite Strecken eher wie ein Wunsch denn als (musikalische) Realität. Schon der „Auftakt“ ist eigentümlich stockend. Ein scharfes, dreistimmig dreitönig skandiertes Fanfaren-Motiv mündet ein in eine statische achttönige Cluster-Fläche, ein Tontraube der Streicher (chromatisch c-cis-d-dis-e-f-fis-g). Das Bläser-Motiv erinnert dabei mit seinen Synkopierungen an das Habanera-Modell. Danach scheint es zwar mit Marschartigem so richtig zackig loszugehen, aber der Cluster erstickt das wie in Watte. Auch wenn dieser dann nicht mehr auftritt, stolpert der Rhythmus, formell zwar taktmäßiges „giusto“, reell aber ziemlich unregelmäßig, über Habanera-Synkopen wie über den bzw. in dem Wechsel zwischen nun grundlegendem Vierviertel-Takt, Dreiviertel-Takt und Alla-breve-Takt.

Das auch die als Nr. 7 fungierende „Fever“ fiebrige Hast aber kein wirkliches tempo giusto bringt, macht Jahns Zweifel an dessen Verwirklichbarkeit deutlich: gerade der von der Gesamtanlage der Formarchitektur zentrale, mittlere Satz findet da kein rechtes Maß.

Im vorletzten Satz Black out (The same is not the same) thematisiert Jahn die angesprochenen Fragen und Probleme musikalisch noch expliziter. Auf jeweils drei Takte in ruhig-konzentriertem, dichtem, polyphonisierendem Satz folgt eine Generalpause. Das Gewebe des Satzes und seine motivischen Elemente erscheinen immer wieder variiert, permutiert, gleich und doch anders. “Dasselbe ist nicht dasselbe” – und Jahn erinnert sich dabei überdies an den Satz aus Brecht/Eislers Lehr-Stück Die Mutter: „Das Sichere ist nicht sicher“. Und ich erinnere dabei an noch mehr. Es heißt dort im selben Song im Jahr 1930 nämlich auch, vielleicht aus heutiger Sicht etwas zu selbstsicher: „Denn die Besiegten von heute sind die Sieger von morgen“. (Einstweilen scheinen sie gestern wie heute und morgen die Besiegten zu bleiben.) Auch die sich anschließende Übersetzung von „Utopie“, dem „Kein Ort. Nirgends“, ins Zeitlich-Voranschreitende ist richtig, ihre Realisierung lässt aber auf sich warten – „und aus ‚Niemals’ wird ‚Heute noch’“. Immerhin behält nicht die Generalpause, klassische rhetorische Figur für ‚Tod’, das letzte Wort, sondern die Musik, selber dialektisch-kontrapunktisch. Die Violine I stürzt sich aus höchster Höhe drei Oktaven in die Tiefe, Violine II und Viola begnügen sich mit zwei Oktaven. Aber grade die tiefen Instrumente Fagott und Kontrabaß wagen in Oktavparallen einen vorsichtigen Aufstieg, dreitönig, h-c-d.

So oder so: „Es muss sein“, wusste bereits Beethoven. Wenn sich der Weltlauf nicht ändert, wenn wir, wenn die Menschheit ihn nicht zu ändern und zu wenden vermögen, droht der Sieg der Generalpause, das Ende. Thomas Jahn zeigt sich am Schluss da eher zweifelnd bis verzweifelt. „Gibt es das überhaupt, das Tempo giusto?“, fragt er in einem Werkkommentar, und gibt gleich zwei vielleicht auch etwas zu sichere Antworten: „Das Tempo giusto ist ein geträumtes, ein erfundenes, ein Kunstprodukt“ und weiter: „Das richtige Zeitmaß, ein Widerspruch, es zerbricht an der Realität“.

Die abschließende Nr. 13, Fugue, übersetzt Jahn sozusagen wörtlich mit „Flucht“. Einer langsamen Pianissimo-Einleitung folgt in geradezu rasendem Tempo (Viertel = über 200 MM) die Fuge, exponiert als massives Oktav-Unisono von Klarinette und Fagott mit der straff punktierten, im Tonhöhenverlauf charakteristischen, zwischen Dur und Moll changierenden Fügung a-as-e-g-as-f, also wieder die Kombination von Terz und Halbton. Als wäre der Flucht-Verlauf noch nicht atemlos genug, baut Jahn kurz vor Schluss noch bei den Streichern, von oben nach unten aufeinander folgend, rhythmisch aleatorische Passagen (also das Gegenteil des tempo giusto) ein mit der Anweisung „so schnell als möglich“. Eine der strengsten Satztechniken löst sich in – immerhin organisiertes – Chaos auf, Tradition mündet in Moderne ein. Erst ganz zum Schluss kehrt das erwähnte Kopfmotiv des Fugen-Soggetto wieder, nun ins fast Überdimensionale gesteigert und im Unisono über den ganzen Tonraum ausgeweitet. Kein gerechtes Maß und Ziel, kein richtiger Weg, keine angemessene Zeit, kein richtiges Ort? Immerhin, dankbar für kleinste Zeichen, lesen wir als Schlusstöne den winzigen halbtönigen Aufstieg vom g zum as. Vielleicht ist das bald auch zu hören.

So schnell als möglich sollten weitere Teil dieses weitgespannten Werks – oder am besten gleich das Ganze – aufgeführt werden.

aus: impulse Nr. 8, Nov. 2004

Hanns-Werner Heister, Dr. phil., geb. 1946 in Plochingen/Neckar, ist Prof. für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.
Mitherausgeber Komponisten der Gegenwart (seit 1992); Hg. der Reihe Zwischen/Töne. Musik und andere Künste (1995-2000), Neue Folge Berlin ab 2001; Hg. „Entartete Musik“ 1938 - Weimar und die Ambivalenz (Saarbrücken 2001); Hg. Kunstwerk und Biographie (Berlin 2002); Hg. Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, Bd. III: 1945-1975 (Laaber 2004); Hg. Zur Ambivalenz der Moderne, 4 Bde. (Berlin 2004ff.); in Vorbereitung: Musik und Macht (Laaber 2005).

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